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Popkultur

„Wahnsinnig ergreifend“: Produzent Giles Martin über den letzten Beatles-Song „Now And Then“

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Giles Martin
Foto: Alex Lake

Mit 28 Jahren Verspätung ist die allerletzte Single der Beatles auf den Playlisten gelandet: Now And Then ist ein bahnbrechendes Abschlusskapitel – der perfekte Schlusspunkt, um die größte Erfolgsgeschichte des Pop zu besiegeln.

von Paul Sexton

Man konnte die Aufregung damals förmlich spüren, als die Anthology-Alben der Beatles Mitte der Neunziger in die Läden kamen – immerhin befanden sich darauf gleich zwei brandneue Songs, an denen sämtliche Bandmitglieder mitgewirkt hatten. 28 Jahre später ist nun ein weiterer Song erschienen, an dem die Band genau genommen schon in jenen Tagen gearbeitet hatte. Was damals noch an technischen Problemen scheiterte und dementsprechend vorerst in der Schublade landen musste, konnte nun dank modernster Technologie endlich vollendet werden – und fungiert jetzt als bahnbrechendes Abschlusskapitel der größten Erfolgsgeschichte des Pop.

Flankiert wird die neue Single von einem kurzen Dokumentarfilm, den Regisseur Oliver Murray selbst geschrieben hat, und dem dazugehörigen Musikvideo, für das Peter Jackson verantwortlich zeichnet, der zuletzt schon beim gefeierten Doku-Dreiteiler Get Back Regie geführt hatte. Zugleich landet der Song als abschließendes Kapitel auch auf den neuen, erweiterten Editionen der „roten“ und „blauen“ Compilation-Klassiker – 1962-1966 und 1967-1970.

Ein Song für Paul

Auch der Produzent Giles Martin, der Now And Then gemeinsam mit Paul McCartney produziert hat, weiß natürlich um die emotionale und kulturelle Tragweite dieser Veröffentlichung. Schließlich wussten echte Beatles-Kenner*innen schon seit den späten Siebzigern von der Existenz dieses Demo-Tapes. John Lennon hatte die Songskizze gegen Ende des Jahrzehnts zu Hause am Klavier eingesungen – und zwei Worte auf die Kassette geschrieben: „For Paul“.

Yoko Ono fand das Tape und reichte es schon vor dem Beginn des Anthology-Projekts weiter an McCartney. Gemeinsam mit ihrem damaligen Produzenten Jeff Lynne setzten Paul, Ringo Starr und George Harrison alles daran, die Demoaufnahme in eine dritte „neue“ Single zu verwandeln, die auf Free As A Bird und Real Love folgen sollte. Eine technisch unlösbare Aufgabe in jenen Tagen – die Qualität des Demos war einfach zu schlecht.


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Erst die technischen Entwicklungen der letzten Jahre sollten dieses Problem aus der Welt schaffen: Paul erkannte die Gelegenheit und machte sich zusammen mit Giles Martin daran, die finale Version von Now And Then aufzunehmen. Während Ringo und er selbst neue Instrumentalparts einspielten, ergänzten sie auch einen Part von George – und gaben auch am Mikrofon ihr Bestes, um John Lennons nun so viel besser klingenden Leadgesang einzurahmen.

„Das war damals der andere Track, an dem sie auch noch arbeiteten“, erinnert sich Martin zurück. „Irgendwann waren sie dann einfach nur noch frustriert. George kam nicht darauf klar, dass das Ausgangsmaterial dermaßen schlecht klang. Und jetzt klingt es besser als Free As A Bird! Vermutlich dachte er sich damals, ‘Na ja, zwei Stück haben wir ja gemacht, und der hier ist einfach zu schwierig. Lasst uns den hier einfach ad acta legen.’“

„Was nicht daran lag, dass der Song nicht gut wäre“, sagt er weiter, „der Song ist großartig. Er ist fabelhaft – und auch echt einprägsam. Und dann der Inhalt: Ich hab mich mit Peter Jackson darüber unterhalten, dass es ja im Grunde genommen eine Art Liebesbrief an Paul ist. Das finde ich so schön daran, genau wie Paul ja Here Today [über John] geschrieben hatte [auf dem Album Tug Of War, 1982]. Ich finde das wahnsinnig ergreifend.“

KI sei Dank

Möglich wurde die Fertigstellung der neuen Single erst durch die grandiosen technischen Fortschritte im Studiobereich, die während der Arbeit an den jüngsten Beatles-Veröffentlichungen gemacht wurden. „Paul wusste natürlich von diesen De-Mix-Sachen, die wir für Revolver eingesetzt hatten – und dann auch während der Arbeit an Get Back“, berichtet Martin weiter. „Er hatte das Material zu Now And Then so oder so bei sich im Archiv, weil sie die Originalaufnahme mit Jeff damals in Pauls Studio in Rye [in Sussex] gemacht haben. Paul spielte mir dann vor, woran er arbeitete und wollte meine Meinung dazu hören. Mir schwebte schon eine gewisse Richtung vor, und so begann also diese Zusammenarbeit. Paul hatte also schon ganz schön viel Arbeit in die Sache investiert, als ich dann dazukam.“

„Paul war sehr behutsam – was ja auch absolut richtig ist“, so der Produzent. „Es durfte auf keinen Fall kitschig klingen. Und da er ‘irgendwie daran gedacht hatte, dass Streicher ja gut dazu passen könnten’, machten wir auch noch ein Streicherarrangement. Dann flog ich nach L.A. in die Capitol Studios und wir veränderten das Arrangement so, bis es dem entsprach, was Paul für die beste Lösung hielt. Erst dann machten wir die Aufnahme, bei der ich auch die Backing-Vocals ins Spiel brachte.“

Wie genau die De-Mix-Technologie funktioniert, erfährt man in den Abbey Road Studios: Sie basiert auf Algorithmen, die einzelne Instrumente herausfiltern, diese Parts also gewissermaßen extrahieren können – wodurch man erstmals auch Stimmen isolieren oder komplett entfernen kann. „Als es uns dann gelungen war, Johns Stimme wirklich gut klingen zu lassen, war da plötzlich eine ganz neue Kraft. Seine Stimme klang plötzlich viel ergreifender. Anfangs hatten wir noch mehr Instrumente, aber das änderten wir dann wieder. Es war toll, wie organisch alles ablief.“

Besonders den eingeschworenen Fans der Beatles will Giles versichern, dass sie keinerlei Bedenken haben müssen, was die neuen Technologien angeht: „Eine goldene Regel beim De-Mixing lautet, dass nichts verändert oder weggenommen wird. Dass alles ganz unbehandelt und rein bleibt, wenn man so will. Es ist nichts rein Digitales hinzugefügt, und es ist auch kein Sampling. Das ist absolut entscheidend: Man bekommt den Sound der Beatles. Was man hier hört, ist ihr Herzschlag, ihre Seele. Nur klingt der Begriff ‘KI-Song’ ja eher so, als ob jemand ‘Beatles’ eingegeben und irgendeine KI dann das hier daraus gemacht hätte. Und das hat ja nun gar nichts mit dem zu tun, was hier wirklich passiert ist.“

Zugleich machten die neuen KI-Tools noch andere Kunstgriffe möglich – so konnte Giles Martin die neuen Gesangsparts etwa mit Original-Backing-Vocals kombinieren, für die er sich bei Klassikern wie Here, There And Everywhere, Eleanor Rigby und Because bediente. Er wusste ganz genau, welche Songs dafür in Frage kamen: „Ich weiß schließlich, in welcher Tonlage sie geschrieben wurden“, erklärt er. „Ich bin ziemlich gut, was Tonlagen angeht, und kann mir solche Sachen immer sehr gut merken. Und dann hofft man, dass es passt, aber ziemlich oft funktioniert es dann trotzdem nicht. Also fängt man wieder von vorne an. Ich wollte einfach den Sound dieser typischen Beatles-Harmonien ins Spiel bringen.“

Eine Familienangelegenheit

Genau genommen war die Arbeit ganz ähnlich wie sein allererster Auftrag für die Beatles, als er (gemeinsam mit seinem Vater George Martin) den neuen Mix für das Love-Album (2006) und die dazugehörige Liveshow zusammenstellte. „Ja, das hier ist ähnlich zukunftsweisend wie damals die Love-Show“, findet er auch und ergänzt lachend, dass er schon damals damit gerechnet hatte, den Zorn der Beatles-Purist*innen auf sich zu ziehen. „Am Tag der Premiere habe ich ernsthaft gedacht, dass eine Brandbombe auf mein Haus fliegen könnte.“

Absolut passend zum Titel der Single, vereint Now And Then tatsächlich den allerletzten und den allerersten Song der Beatles – da der brandneue Mix von Love Me Do (aus dem Jahr 1962) die Doppel-A-Seiten-Single komplettiert. „Mit dieser neuen Technologie können wir auch so etwas wie Love Me Do abmischen, obwohl uns für die Version mit Ringo eigentlich nur die Vinylversion vorliegt“, so der Producer. „Wir kreieren also basierend auf dem Vinyl eine Mehrspur-Variante – und das klingt richtig gut. Man hört das sofort. Wartet ab, bis ihr Twist And Shout oder I Saw Her Standing There gehört habt. Vollkommen verrückt ist das – als ob man mit der Band im selben Raum stehen würde. Für mich war’s das spannendste Mixing-Projekt, das ich jemals gemacht habe.“


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Genau genommen fungierten jene beiden Compilation-Klassiker – das „rote“ und das „blaue“ Best-of-Album –, die nun erweitert und neu abgemischt in Stereo- und Dolby Atmos-Sound erscheinen, für Giles als Einstieg in den monumentalen Katalog, den die Beatles zusammen mit seinem Vater George Martin geschaffen hatten. „Mir ist schon klar, wie ketzerisch das klingt, aber für viele Leute in meiner Generation sind diese zwei einfach die beiden Lieblingsalben aus dem Beatles-Katalog“, gesteht er schmunzelnd. „Es war echt spannend, daran zu arbeiten, schließlich gehöre ich ja zu dieser Generation, in der man die Reihenfolge der Tracks auswendig kennt. Ich weiß, welcher Song als nächstes kommt – weil wir diese zwei Alben einfach andauernd gehört haben.“

„Echt überraschend fand ich, wie zurückhaltend ich früher doch war, wenn es darum ging, das ältere Material von ihnen anzufassen“, sagt er abschließend. „Noch vor einem Jahr hätte ich es vermutlich nicht mal angefasst, also gar nicht erst gemacht, würde ich sagen. Und heute finde ich, dass der Klang dieser frühen Aufnahmen absolut bahnbrechend ist.“

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