------------

Popkultur

„Imagine“: Wie der kontroverse Song von John und Yoko zur Friedenshymne wurde

Published on

John Lennon
Foto: Peter Fordham © Yoko Ono Lennon

Es gibt einen Song, der Millionen von Menschen in schwierigen Zeiten inspiriert und tröstet: Imagine von John Lennon und Yoko Ono.

Hier könnt ihr das Album Imagine hören:

Auch große Musiker*innen erinnern sich in solchen Momenten oft an den Song. Als Stevie Wonder im August 2018 während eines Konzertes in Atlanta vom Tod von Senator John McCain erfuhr, spielte er spontan eine wunderschöne Version von John Lennons Meisterwerk aus dem Jahr 1971. Direkt nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war der Song zwar aus dem Radio verbannt worden, aber Neil Young erkannte seine Kraft und sang ihn bei dem Gedenkkonzert America: Tribute To Heroes. Coldplay spielten eine Version nach den Anschlägen von Paris im Herbst 2015 und im Nachgang der Auseinandersetzungen um Nordkorea 2018 spielte eine koreanische Musikgruppe den Song bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Winterspiele.

von Martin Chilton

“Eine Marketingkampagne für den Frieden”

Lennon beschrieb Imagine als eine Marketingkampagne für den Frieden und es ist nicht verwunderlich, dass diese bewegende Hymne für Menschen, die sich nach Harmonie und Frieden auf der Welt sehnen, ein wahrer Leuchtturm ist. Imagine entstand während des Vietnamkrieges, im März 1971, und hat sich zu einem ewigen Protestsong und einem Symbol für die Hoffnung entwickelt.

Als seine Witwe Yoko Ono Anfang September 2018 gemeinsam mit ihrem Sohn Sean Lennon im New Yorker Central Park auftrat, um eine Ehrenbriefmarke des US Postal Service zu Ehren des verstorbenen Beatle zu feiern, sprach sie auch über den Song Imagine, der übrigens in der offiziellen Phonographic Performance Limited Liste gestreamter Songs noch vor allen Beatles-Songs landet.

Was macht Imagine zu so einer großartigen Aufnahme? Schon mit den ersten Klavierakkorden ruft der Song eine starke Gefühlsreaktion hervor. Und auch die Produktion ist sehr intelligent: Gemeinsam haben John, Yoko und der Maestro, Phil Spector, alles aus John Lennons nachdenklicher, verletzlicher Stimme herausgeholt. Die unauffällig schönen Streicher – geschrieben von Lennon, orchestriert von Torrie Zito und gespielt von The Flux Fiddlers – tragen ihren Teil dazu bei, dass dieser Song der absolute kreative Höhepunkt der professionellen Partnerschaft zwischen John und Yoko wurde.

Ein Liebeslied and die Menschlichkeit

Inspiriert wurde Imagine von einem Gedicht von Yoko Ono, das 1964 in ihrem Buch Grapefruit erschien. In Cloud Piece schrieb sie: “Imagine the clouds dripping, dig a hole in your garden to put them in.” Lennon sagte später: “Imagine sollte Lennon/Ono zugeschrieben werden. Ein großer Teil davon – die Textzeile und das Konzept – stammten von Yoko. Aber damals war ich zu egoistisch und ein Macho. Ich habe ihren Beitrag verschwiegen, aber die Idee kam aus dem Buch Grapefruit.”

Die erste Zeile dieses Liebeslieds an die Menschlichkeit lautet “Imagine there’s no heaven” – seinerzeit eine Provokation, denn damit stellte der Mann, der in der Vergangenheit schon gescherzt hatte, dass die Beatles “populärer als Jesus” waren, die organisierte Religion direkt in Frage. Der Song fordert die Zuhörer*innen weiterhin auf, sich die Welt ohne Besitztümer, ohne Religion und sogar ohne Nationen vorzustellen, also ohne etwas, “für das man töten oder sterben” würde.

Imagine ist die Essenz der Philosophie von Lennon und Ono an einem wichtigen Punkt in ihrem Leben, nämlich, als die Frischvermählten ihre Weltsicht nach außen kommunizieren wollten. Das Album Imagine erschien nach einer turbulenten Phase, in der Lennon und Ono eine Reihe von Protesten in ihrem Bett, sogenannte Bed-ins veranstaltet und damit weltweit für Aufsehen gesorgt hatten. Außerdem hatte das Paar Coventry Cathedral besucht und dort an einer Stelle, die während des Zweiten Weltkriegs bombardiert worden war, als Zeichen für den Frieden Eicheln eingepflanzt.

Ivor Sharp © Yoko Ono Lennon

“John war ein sehr religiöser Mensch”

Dieser Blick nach draußen auf die Welt wurde allerdings mit einer erfrischenden Entdeckungsreise nach innen ergänzt. Mitte bis Ende der 1960er Jahre hatten Lennons psychedelischen Experimente ihn dazu veranlasst, nach anderen Methoden Ausschau zu halten, sein Bewusstsein zu erweitern – darunter auch das Studium der transzendentalen Meditation bei Maharishi Mahesh Yogi in Rishikesh, Indien, wo die Beatles sich 1968 aufhielten. Aber Lennon, der ewig Suchende, wäre niemals mit nur einer Methode zufrieden gewesen, wie Yoko es später ausdrückte: “John war ein sehr religiöser Mensch, er gehörte nur keiner Konfession an.” Er hatte schon den Unmut der amerikanischen Christ*innen auf sich gezogen, die nach seiner Bemerkung über die Beliebtheit von Jesus sogar Beatles-Alben öffentlich verbrannten. Und als dem Maharishi Fehltritte vorgeworfen wurden, verließ Lennon das Ashram auf schnellstem Wege.

“Das Christentum hat viele positive Elemente, aber man muss sich mit den Grundlagen beschäftigen, und mit den Grundlagen fernöstlicher Religionen, und sie dann selbst miteinander verknüpfen”, führte Lennon später aus. In dem Song God sang er: “I just believe in me/Yoko and me/And that’s reality”. Der Song erschien 1970, als Yoko sich ihres Philosophiestudiums bediente, um den Ex-Beatle zu therapieren. Nach diesen eher informellen Sitzungen nahmen John und Yoko an Primärtherapiekursen des Psychologen Arthur Janov teil. Die Ergebnisse kann man auf dem ebenfalls 1970 erschienenen Album John Lennon/Plastic Ono Band hören – ein rohes, kathartisches Album, das die Klarheit der Gedanken, die für Imagine nötig war, überhaupt erst möglich gemacht hat.


Jetzt in unserem Shop erhältlich:

john Lennon - Imagine
John Lennon
Imagine
Ltd. Col. 2LP, LP, CD

HIER BESTELLEN


Das Album Imagine, auf dem sich auch der sehr politische Song Gimme Some Truth befindet, war eine Einladung, sich das Unmögliche vorzustellen; ein Appell an die Menschen, spirituelle Einigkeit zu zeigen und den durch Religionen und Nationen verursachten Spaltungen abzuschwören. Es war auch ein Abbild von Lennons Gemütszustand zu der Zeit. Drummer Alan White erinnert sich, dass die Stimmung sehr warmherzig war und sich alle im Studio gut verstanden: “John Lennon freute sich sehr darüber, wie das Album sich entwickelte. Darum war er bester Laune.”

“Wir tragen die Fackel”

Am 5. Dezember 1980 gab John Lennon sein letztes Interview. Er sprach mit Jonathan Cott vom Rolling Stone. Über seinen einflussreichen Song sagte er: “Wir waren nicht die ersten, die gesagt haben, stellt Euch vor, wie es ohne Nationen wäre oder ‘give peace a chance’, aber wir tragen diese Fackel wie das olympische Feuer und geben sie weiter, von einem Träger zum nächsten, von einem Land, von einer Generation – und das ist unsere Aufgabe. Nicht einfach so zu leben, wie irgend jemand anderes meint, dass es richtig ist – reich, arm, glücklich, unglücklich, lächelnd, nicht lächelnd, mit der richtigen Jeans oder einer falschen.”

Das Album wurde im Februar, Mai und Juli 1971 eingespielt und es gibt sogar Aufnahmen, auf denen Lennon verschiedene Versionen des Songs am Klavier ausprobiert und es auf unterschiedliche Art und Weise singt.

Zu Beginn der Arbeit an Imagine war der Song “ohne Melodie” geplant, wie ein “Kinderreim für ein Spiel”. Als John die endgültige Version im Studio finalisierte, war Bass von dem alten Beatles-Kompagnon Klaus Voormann dazugekommen, sowie Schlagzeug und ein Streicherarrangement.

“Wir müssen über Gewalt in der Gesellschaft reden”

Bei der Veröffentlichung sagte Lennon, dass die Welt sich zu sehr auf Unwichtiges konzentrierte und “worüber wir wirklich reden müssen, ist die Gewalt in unserer Gesellschaft”. Nach Johns Ermordung im Dezember 1980 erreichte die Single Platz eins der Charts und stieg nochmal in die britischen Charts ein, nachdem Emeli Sandé für die Olympischen Spiele 2012 in London eine Coverversion aufgenommen hatte. Auch heute noch ist der Song ein fester Bestandteil der Neujahrsfeierlichkeiten auf dem New Yorker Times Square.

Imagine wurde mit Streichern hübsch verpackt, aber wenn man die Orchestrierung wegnimmt, dann ist das Konzept dahinter immer noch radikal und revolutionär – oder, wie Lennon es ausdrückte: “Es ist ein Held der Arbeiterklasse mit Zuckerguss”. Yokos Aussage, “all diese Instruktionen sind dafür gedacht, wie die Menschen die Ewigkeit verbringen sollen, denn wir haben sehr viel Zeit” war wohl eine Vorahnung. Jahrzehnte nach seiner ursprünglichen Veröffentlichung ist dieses Meisterwerk der Popmusik und Paradebeispiel für Schlichtheit weiterhin eine Quelle der Inspiration für Menschen aller Ethnien und Religionen und bietet den Hörer*innen einen kurzen Moment der Hoffnung in einer chaotischen Welt – besonders mit diesen schönen Lyrics:

You may say I’m a dreamer
But I’m not the only one
I hope some day you’ll join us
And the world will be as one

Du willst nichts mehr in der Rockwelt verpassen? Melde dich hier für unseren Newsletter an und werde regelmäßig von uns über die wichtigsten Neuigkeiten, die spannendsten Geschichten sowie die besten Veröffentlichungen und Aktionen informiert!

5 Wahrheiten über John Lennons “Imagine”

Don't Miss