Popkultur
Underdogs: 10 Metallica-Songs, die viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommen
Gut, wirklich unbekannte Juwelen gibt es im Kanon der größten Heavy-Metal-Band aller Zeiten vielleicht nicht. Wir finden aber, dass diese zehn Metallica-Perlen dennoch mehr Aufmerksamkeit verdient hätten – auf und abseits der Bühne.
von Björn Springorum
Während wir alle gierig mit den Hufen scharren und die Tage zählen, bis wir unsere Zähne endlich in 72 Seasons vergraben können, haben wir mal wieder einer unserer Lieblingsbeschäftigungen gefrönt: ganz tief in die Archive von Metallica eintauchen. Herausgekommen sind wir diesmal mit zehn Songs, die unserer Meinung nach arg unterbewertet sind und viel, viel mehr Applaus verdient hätten.
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1. The Wait (The $5.98 EP – Garage Days Re-Revisited, 1987)
Passend zu unserer ungeduldigen Warterei auf die neue Metallica-Platte fangen wir mal mit diesem kuriosen Song an. Metallica covern Killing Joke, das allein ist ja schon mal ein zweites Hinhören wert. Aber genau darum ging es der Band bei ihren Garage Days: eher unerwartete, abseitige Einflüsse ausgraben und Songs wie diesem hier von 1980 das Metallica-Treatment verpassen. Garage Days ist noch aus einem anderen Grund bedeutsam: Die EP ist die erste Aufnahme nach dem Tod von Cliff Burton und das Bass-Debüt von Jason Newsted. Der macht sich 1987 gleich doppelt beliebt: Nicht nur gibt er von Anfang an Gas am Bass; er wandelt Lars Ulrichs Garage auch in einen schalldichten Raum um, in dem die Songs entstehen.
2. Thorn Within (Load, 1996)
Load und Reload sind beide deutlich zu lang, aber auch deutlich zu unterschätzt. Songs wie Thorn Within unterstreichen das. Ja, man braucht ein wenig, um in die Gänge zu kommen. Aber wenn der Song rollt, dann rollt er – heftiger Groove, Killer-Riff und Übersolo inklusive. Auch wenn wir am liebsten Alben am Stück hören: Hier empfiehlt es sich, die Nummer isoliert zu genießen. Ganz schön gut, was? Live wurde sie übrigens noch nie gespielt.
3. Carpe Diem Baby (Reload, 1997)
Die Sache mit dem schwülen, fetten, schleppenden Groove haben Metallica auch auf Reload durchexerziert. In Carpe Diem Baby gibt es beispielsweise mehr als eine kleine Verbeugung vor dem Wüsten-Kings Kyuss. Load und Reload zelebrieren die Lust an einfacheren Songs mit Biss und Grip, manchmal eben tatsächlich zu sehr und ohne zündende Einfälle. Hier nicht. Hier herrscht Equilibrium zwischen Lässigkeit und Power.
4. Low Man’s Lyric (Reload, 1997)
Huh, noch ein Song von Reload, wie können sie nur? Äh, vielleicht weil Metallica hier eine Drehleier verwenden und nebenbei so tun, als wären sie eine Psych-Band aus dem San Francisco der Sechziger? Low Man’s Lyric ist eine lakonische, stille, bittersüße Ballade, deren Text durchaus ambig ist. Geht es um Sucht? Um Selbstmord? Um einen Obdachlosen, der auf sein Leben zurückblickt? Egal, die vielleicht untypischste Metallica-Nummer überhaupt steht The Unforgiven in nichts nach. Da, wir haben es gesagt.
5. Rebel Of Babylon (Beyond Magnetic, 2011)
Manche würden ja durchaus (und unberechtigterweise) sagen, dass Death Magnetic schon mehr als genug war und man keinesfalls noch eine Zusatzportion Songs aus diesen Sessions braucht. Wir sagen: Gut, dass es 2011 noch das offizielle Addendum Beyond Magnetic mit vier weiteren Songs gibt. Weitgehend übersehen von der Welt, findet sich mit dem abschließenden Achtminüter Rebel Of Babylon ein echtes Highlight auf der EP: eine furiose, bittere, beißende Nummer über Alkoholabhängigkeit, voller Tempowechsel und Energie. Hätte durchaus seinen Platz auf Death Magnetic verdient.
6. The View (Lulu, 2011)
Nein, Lulu ist keine Glanzstunde. Weder für Metallica noch für Lou Reed. Wie bei Load und Reload gilt aber auch hier: Das Album mag in seiner Gänze too much sein und in seiner artsy Aura einfach nicht zum Punkt kommen; es hat aber Momente. Große Momente. Einer davon kommt relativ zu Beginn: The View, ein doomiger Stampfer, der durch Reeds mantraeske Poesie zum Spoken-Word-Rocker wird. Ein herrliches Beispiel, wieso diese seltsame Union durchaus hätte aufgehen können: Metallica jammen wie damals im Proberaum, Lou Reed tut das, was er am besten kann: geniale Texte rezitieren.
7. Escape (Ride The Lightning, 1984)
Als Song hat man es bei Metallica nicht einfach. Nehmen wir einfach nur mal Escape von diesem Biest namens Ride The Lightning: Auf einmal findest du dich in Gegenwart von For Whom The Bell Tolls, Fade To Black und Creeping Death wieder. Na danke, wie soll man denn da bestehen? Escape wurde deswegen mit gutem Gewissen ignoriert – aber auch, weil er in seiner deutlich einfacheren Struktur und mit simplen Hooks eher das vorwegnimmt, was die Band nach …And Justice For All angeht. Gerade deswegen sticht diese schwungvolle Rocknummer aber eben heraus.
8. When A Blind Man Cries (Re-Machined: A Tribute To Deep Purple’s Machine Head, 2012)
Klar, Machine Head ist diese eine Deep-Purple-Platte, auf der das unvermeidliche Smoke On The Water erschallt. Sie ist aber auch Gegenstand eines bemerkenswerten Tribute-Albums, an dem neben Iron Maiden, Carlos Santana und Black Label Society auch Metallica beteiligt sind. Sie covern die B-Seite When A Blind Man Cries mit Gefühl und behutsamer Generalüberholung. Es war bei Deep Purple ein stiller Song und es ist auch bei Metallica einer.
9. My World (St. Anger, 2003)
Ach je, ach je, St. Anger. Was saßen wir vor 20 Jahren ratlos vor den Boxen. Wirklich gut gealtert ist das Album auch nicht gerade, aber das Erstaunliche ist: Die eine oder andere Nummer, die funktioniert heute besser als man das damals jemals zu träumen gewagt hätte. My World zum Beispiel, ein schroffer Prügelknabe mit kantigem Riff, ordentlich Druck unterm Kessel und brutalem Gesang. Nicht zum ersten Mal schüttet James Hetfield sein Herz in den Lyrics aus, singt von seinen Dämonen und seiner instabilen geistigen Gesundheit. Wir haben damals nur einfach nicht genau hingehört. Der Band ging es damals alles andere als gut. Und allein deswegen darf St. Anger als wichtiges Zeitdokument gelten.
10. Leper Messiah (Master Of Puppets, 1986)
Wie soll auf der wichtigsten Metal-Platte aller Zeiten bitteschön ein unterschätzter Song stehen? Berechtigte Frage. Die Antwort: Wissen wir doch nicht. Fakt ist aber nun mal, dass Leper Messiah durchaus hinter dem Feld zurückbleibt. Und das zu Unrecht. Klar, es steht zwischen Disposable Heroes und Orion, hat aber genug in petto, um den beiden die Stirn zu bieten. Vordergründig simpel, liegt gerade darin seine größte Kraft. Hier wird die Essenz von Metallica bis zum Sirup eingekocht: ein heftiges Riffs, marschierende Drums, kurze Stopps und ein Breakdown aus dem Lehrbuch. Sicher kein ganz unbekanntes Metallica-Juwel. Aber eben nicht vorn dabei, wenn man an Master Of Puppets denkt. Oder?
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Popkultur
Zeitsprung: Am 4.6.1990 verstirbt Punk-Ikone Stiv Bators nach Zusammenstoß mit einem Taxi.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 4.6.1990.
von Frank Thießies und Christof Leim
Als Sänger Stiv Bators am 4. Juni 1990 in Paris an den Folgen eines Verkehrsunfalls stirbt, ist dies ironischerweise die am wenigsten glamouröse Form des Ablebens für einen Rockstar mit Hang zum Morbiden. Dabei hatte der Sänger der Dead Boys und The Lords Of The New Church Zeit seines Lebens mit der Todessehnsucht gespielt. Ein Rückblick auf den Werdegang einer Legende des Punk und Gothic Rock.
Hier könnt ihr euch Young, Loud And Snotty anhören, das Debüt der Dead Boys:
Joey Ramone höchstselbst hatte ihnen geraten überzusiedeln: Ursprünglich stammen die Dead Boys aus Cleveland, Ohio; in New York City jedoch werden sie schnell eine der Hausbands im CBGB’s, eines legendären Punk-Epizentrums, und zu einem Publikumsmagneten für die aufkeimende Sicherheitsnadel-Szene. Mit ihrem programmatischYoung, Loud And Snotty betitelten Debüt von 1977 und der Punk-Hymne Sonic Reducer sowie ihren drastisch-provokanten, autoaggressiven Bühnenshows macht sich die Band im verrottenden Big Apple einen Namen. Ihr Anführer: Sänger Steven John Bator, genannt Stiv Bators. Bereits ein Jahr später folgt ein zweites Album, We Have Come For Your Children, welches übrigens auch den von Guns N‘ Roses Jahrzehnte später popularisierten Song Ain’t It Fun enthält.
Gothic-Größe
Mag die Band selber auch Spaß an jenen Gigs und den Provokationen haben, so ist sie anfangs doch etwas zu sperrig für einen Mainstream-Erfolg. Hier liegt vermutlich einer der Gründe dafür, dass sich die Dead Boys im Jahre 1979 auch schon wieder auflösen. Vorerst versteht sich. Nachdem Sänger Stiv Bators auf seinem Dezember 1990 erscheinenden Solodebüt Disconnected schon die Punk-Wurzeln zugunsten eines Garagen-Power-Pop-Sounds kappt, verschlägt es den Frontmann kurze Zeit später nach London. Dort gründet er nach der Zwischenstopp-Band The Wanderers 1981 schließlich zusammen mit Leuten von The Damned, Sham 69 und The Barracudas eine neue Supergoup: The Lords Of The New Church. Deren kühler, vergleichsweise gefälliger und gar nicht mehr so stachliger Sound, eine Mischung aus Gothic, Glam, Garagen Rock und einer kleinen Portion Punk, trifft genau den (britischen) Zeitgeist in der Post-Punk-Ära und soll in Sachen Klang und Look zahlreiche nachkommende Düsterrocker wie etwa die finnischen Finsternisfreunde The 69 Eyes maßgeblich prägen.
Klinisch tot
Ihre ersten drei Alben, The Lords Of the New Church (1982), Is Nothing Sacred? (1983) und The Method To Our Madness (1984), hauen die neuen Gothic-Größen noch im Jahrestakt raus. Auf der Bühne bemüht Bators immer wieder gerne seinen seit Dead-Boys-Zeiten etablierten Mikrofonkabel-Strangulations-Trick. Ein Gimmick, welches dem Sänger 1983 bei einem Gig fast wortwörtlich das Genick bricht: Als Fans zu sehr an der Strippe ziehen, verliert Bators das Bewusstsein und muss gar ins Krankenhaus eingeliefert werden. Für einige Minuten ist er sogar klinisch tot. Sein lakonischer Kommentar dazu soll gelautet haben: „Ich bin einmal fast auf der Bühne gestorben. Wie um Himmels Willen soll man das noch übertreffen?“
Is This The End?
Zwar nicht so kurzlebig wie die Dead Boys, sind auch die Lords Of The New Church nach New Wave-Vorstößen sowie einem Madonna-Cover von Like A Virgin im Sommer des Jahres 1989 für Bators schon wieder Geschichte. Dort fasst der inzwischen in Paris lebende Sänger 1990 den Plan, zusammen mit dem späteren Schlagzeuger der Toten Hosen, Vom Ritchie, plus den Punk-Legenden Dee Dee Ramone und Johnny Thunders eine neue Gruppe ins Leben zu rufen. Doch die kurz unter dem Namen The Whores Of Babylon agierende Formation hat keinen Bestand.
Als Stiv Bators am 3. Juni 1980 auf der Straße von einem Auto – manche behaupten, es sei ein Taxi gewesen – erwischt wird und so Opfer eines Verkehrsunfalls wird, ahnt der Sänger noch nicht, wie folgenschwer seine Verletzungen sind. Das Krankenhaus verlässt er jedenfalls unbehandelt, nachdem er ein paar Stunden warten musste. Keine gute Idee: Stiv Bators verstirbt in der folgenden Nacht im Schlaf an einem Schädel-Hirn-Trauma. Er wurde 40 Jahre alt.
Zur arg gewöhnlich anmutenden Todesursache („Rockstar von Taxi angefahren“) kommen in der Folgezeit nicht nur eine, sondern gleich zwei des Rock’n’Roll würdige Mythen: Auf Bators Wunsch hin soll seine Asche von seiner Freundin Caroline Warren über dem Pariser Grab von Doors-Sänger Jim Morrison verstreut worden sein – angeblich jedoch nicht, bevor Warren davon noch schnell ein Näschen geschnupft haben soll. Was letztlich dann doch eine Prise mehr ist, als nur ein Toter-Rockstar-Mythos für Fußgänger…
Zeitsprung: Am 6.8.1996 spielen die Ramones ihre letzte Show
Popkultur
Zeitsprung: Am 3.6.1983 ermordet „Layla“-Trommler Jim Gordon seine Mutter.
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 3.6.1983.
von Christof Leim
Jim Gordon gehört in den Sechzigern und Siebzigern zu den Besten in Sachen Rock’n’Roll-Schlagzeug. Er spielt auf legendären Alben wie Pet Sounds von den Beach Boys, Pretzel Logic von Steely Dan und Apostrophe von Frank Zappa. Doch Gordon ist krank: Irgendwann beginnt er, Stimmen zu hören. Am 3. Juni 1983 schließlich kommt es zu einer Tragödie…
Hier könnt ihr das legendäre Album von Derek & The Dominos reinhören:
Derek & The Dominos 1970. Ganz links: Jim Gordon.
Keine Frage, es läuft gut damals für Jim Gordon, sehr gut sogar: Angeblich geht auf der Höhe seines Erfolges die Nachfrage so weit, dass der Drummer jeden Tag zwischen Studiosessions in Los Angeles und abendlichen Auftritten in Las Vegas hin- und herfliegt. Er spielt auf All Things Must Pass, dem ersten Soloalbum von Ex-Beatle George Harrison, und gehört 1970 er zur Bluesrock-Supergroup Derek & The Dominos mit Eric Clapton. Die wird vor allem bekannt mit dem Klassiker Layla. In diesem Song verarbeitet Clapton seine Liebe zu Pattie Boyd, der Ehefrau seines Freundes George Harrison. (Die ganze Geschichte zu dieser verzwickten Situation findet ihr hier.)
Vielleicht gerät das Stück deshalb so eindringlich, denn der Gitarrengott leidet. Am Schlagzeug: Jim Gordon. Die sieben Minuten lange Nummer endet mit einem langen, elegischen Piano-Outro, das aus Gordons Feder stammt. Zumindest offiziell: Später wird kolportiert, dass er die Idee von seiner damaligen Freundin Rita Coolidge übernommen habe. Die Songwriting-Credits laufen heute noch auf Clapton/Gordon. Das Lied gewinnt sogar später einen Grammy, als Clapton es für sein Unplugged-Album neu auflegt. (Mehr dazu hier.)
Traurige Eskalation
Kurzum: Für Jim Gordon könnte es nicht besser laufen. Nur leider geht es dem am 14. Juli 1945 geborenen Musiker psychisch nicht gut. Er beginnt, Stimmen zu hören, unter anderem die seiner Mutter. Diese Stimmen nötigen ihn zu hungern und halten ihn zusehends davon ab, sich zu entspannen, zu schlafen oder Schlagzeug zu spielen. Seine medizinische Betreuung schätzt die Ursache dieser Probleme falsch ein und behandelt ihn wegen Alkoholmissbrauchs. Das hilft leider nicht.
Am 3. Juni 1983 greift Jim seine 72 Jahre alte Mutter Osa Marie Gordon mit einem Hammer an und ersticht sie mit einem Messer. Später gibt er an, eine Stimme habe ihm das befohlen. Erst nach seiner Verhaftung wird diagnostiziert, dass Gordon massiv an Schizophrenie leidet. Wegen einer vor kurzem beschlossenen juristischen Reform gilt das vor Gericht nur eingeschränkt als Entlastung: Gordon wird am 10. Juli 1984 zu mindestens 16 Jahren Gefängnis verurteilt („16 years to life“). Er ist 38 Jahre alt und sollte nie mehr öffentlich Schlagzeug spielen.
Der erste Anspruch auf Begnadigung steht ihm 1991 zu, doch das Gericht lehnt dies mehrere Male ab. 2005 gibt Gordon an, seine Mutter sei noch am Leben, 2014 erscheint er nicht zur Anhörung. Die Staatsanwaltschaft verkündet, der Inhaftierte sei weiterhin „massiv psychologisch eingeschränkt“ und „eine Gefahr, wenn er nicht seine Medikamente nimmt“. Die Diagnose der Schizophrenie wird 2017 bestätigt, das zehnte Gnadengesuch wird im März 2018 abgelehnt. Jim Gordon verstirbt schließlich am 13. März 2023 im Alter von 77 Jahren in einer medizinischen Strafvollzugsanstalt in Kalifornien.
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Zeitsprung: Am 16.1.1992 spielt Eric Clapton ohne Strom & landet den größten Hit seiner Karriere.
Popkultur
20 Jahre „Paper Monsters“: Als Dave Gahan richtig laufen lernte
Über 20 Jahre singt Dave Gahan die Texte von Martin Gore. Dann erscheint sein Solodebüt Paper Monsters, auf dem er erstmals für alles verantwortlich ist. Für den Depeche-Mode-Frontmann ist es die ultimative Feuertaufe; für viele Fans ein Fragezeichen. 20 Jahre später wollen wir mal schauen, wie die Platte gealtert ist.
von Björn Springorum
Hier könnt ihr euch Paper Monsters anhören:
Dave Gahans erste Soloplatte erscheint so spät, dass man sich fragt, warum sie überhaupt noch kommt. 2003 hat er mit Depeche Mode alles durch – 20 Jahre an der Spitze einer der größten Pop-Bands der Achtziger, mehrere Überdosen, Nahtoderfahrungen, Suizidversuche, angehimmelt von Millionen und auch intern alle Streits, Ego-Schlachten und Machtkämpfe durch, die so eine Band aus drei Männern eben so mit sich bringt.
Kein egozentrischer Alleingang
Mit anderen Worten: Ein Soloalbum hätte eigentlich viel früher Sinn ergeben. Es kam aber eben nie dazu. Doch genau dieser Umstand macht Paper Monsters zu einer spannenden Ausnahmeerscheinung. Das Album ist nicht das Produkt eines zickigen Frontmanns, der insgeheim denkt, die anderen eh nicht zu brauchen. Es ist ein ehrliches, tief gefühltes Statement eines Künstlers, der nach zwei Jahrzehnten ausschweifendem Leben weiß, wer er ist, was er sagen möchte. Und vor allem, was er an seinen Bandkollegen hat.
Slide-Gitarre und U2
Die große Frage bei Gahans Premiere auf der Solistenbühne ist dann aber trotzdem die, die sich jeder erfolgreiche Bandmusiker bei einem Alleingang stellen muss – egal, ob Phil Collins, Freddie Mercury oder Ozzy: Kann er es überhaupt, so ganz ohne Hilfe? Bei Depeche Mode übernimmt bekanntlich Martin Gore das Gros des Songwriting und der Lyrics, 20 Jahre lang sang Gahan also Texte, die gar nicht von ihm sind. Auf Paper Monsters kommt dann sogar beides von ihm, die Töne und die Worte, und natürlich hört man dem Album an, wessen Lieder der Messias der Popwelt da die letzten Jahre von der Bühnenkanzel predigte: Dave Gahan orientiert sich für sein erstes Soloalbum an Songs Of Faith And Devotion, packt ein wenig melancholische U2-Stimmung drüber und lebt sich spannenderweise an der Slide-Gitarre aus.
Läuterung oder Selbstdarstellung?
Die kommt von Knox Chandler, ein gefragter Studiomusiker, der Dave Gahan auch kompositorisch unter die Arme greift. Paper Monsters ist wie das Depeche-Mode-Album einer Americana-Band – weit, voller Hall, Streichern, Pianos und Gahans innerstem Seelenleben. Denn vor allem das ist dieses Album: Sein großer persönlicher Moment, das erste Mal, dass wir auch in seinen Kopf schauen können. Lyrisch gibt es deswegen auch die volle Nabelschau. Toxische Beziehungen, Alkoholsucht, zehrende Liebeslieder, existentielle Motive und mehr als eine Zeile, die sein Verhalten der letzten 20 Jahre verurteilt. Dave Gahan will Läuterung erfahren, tänzelt aber immer wieder auf der Schwelle zur Selbstdarstellung. Das ist die Gefahr aller Soloalben. Bei Paper Monsters geht es gerade noch mal gut.
Gahans beste Gesangsleistung
Musikalisch entsteht in den New Yorker Electric Lady Studios eine überwiegend ruhige, elegische, verträumte Platte. Produzent Ken Thomas, bekannt vor allem durch seine Arbeit mit Sigur Rós, beschert dem heiliggesprochenen Personal Jesus des Pop einen dichten, atmosphärischen Sound, sorgsam austariert zwischen glitzernder Electronica, endloser Weite, Western-Flair und zerrenden Gitarren. Synthesizer sind überraschenderweise Mangelware auf Paper Monsters. Dann wiederum ist ja irgendwie klar, dass Gahan möglichst viel Raum zwischen sich und seinem Hauptarbeitgeber schaffen möchte. Im Vordergrund steht aber natürlich eh sein größter Trumpf – seine Stimme. Mit Anfang 40 sind seine Tage als größtes Sexsymbol des Planeten so langsam vorüber, da konzentriert er sich lieber ganz auf sein volles, unverkennbares Timbre. Besser singt Dave Gahan auf keinem Depeche-Mode-Album. Das scheint er sich für seinen ganz persönlichen Auftritt aufgespart zu haben.
Bei Erscheinen sorgt Paper Monsters für gemischte Reaktionen und performt auch in den Charts eher unauffällig. So wirklich scheint 2003 niemand zu wissen, was man mit diesem Album anfangen soll. Vor allem wird dann auch seine stimmliche Leistung gelobt (etwa im schleppenden, gitarrenlastigen Hidden Houses), weniger die einzelnen Songs. Durchaus auffällig ist, wie weit Paper Monsters vom damals aktuellen Depeche-Mode-Album Exciter entfernt ist. Man kann es als also durchaus Statement sehen, dass Gahan mit dem experimentellen und elektronischen Sound seiner Hauptband nicht allzu zufrieden war. Zeigt auch das, was danach passiert: Auf Playing The Angel geht es 2005 wieder deutlich organischer zu. Und noch etwas ist neu: Erstmals steuert Gahan drei Songtexte bei. Hat also doch etwas bewirkt, dieser erste Alleingang. Zumindest für ihn persönlich.
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