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Popkultur

Ein unterschätztes Energiebündel: „St. Anger“ von Metallica wird 20!

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Metallica
Foto: Anton Corbijn

Kaum ein Metallica-Album spaltet die Gemüter stärker. Für die einen ist St. Anger unhörbar, die anderen lieben die Platte inbrünstig. Dazwischen gibt es meist nicht viel. Wir haben für euch unter die Lupe genommen, unter welchen Umständen das Album entstand und wie es Metallica zusammenschweißte.

von Timon Menge

Hier könnt ihr euch St. Anger von Metallica anhören:

Über drei Dinge scheint man sich in der Metal-Welt einig zu sein: Nickelback sind scheiße, Lars Ulrich kann nicht Schlagzeug spielen und St. Anger ist das schlechteste Metallica-Album aller Zeiten. Erstes kann man so sehen, Zweites auf keinen Fall, Drittes ist eine Frage der Herangehensweise. Vergleicht man St. Anger mit der musikalischen Genialität von Ride The Lightning (1984), Master Of Puppets (1986) und … And Justice For All (1988), kann die Achte von Metallica nur verlieren. Nimmt man die lupenreine Produktion und die Knackigkeit der „Schwarzen“ als Maßstab, hat St. Anger ebenfalls keine Chance. Doch in der abwechslungsreichen Diskografie von Metallica hinken solche Gegenüberstellungen. Die ersten Alben sind und bleiben ja da — und St. Anger zum Glück auch.


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St. Anger: Ein Metallica-Album unter besonderen Umständen

Die holprige Geschichte von St. Anger beginnt im Januar 2001. Es ist damals ruhiger um Metallica geworden; intern kriselt es. Trotzdem setzen die Kalifornier mehrere Besprechungen an, um ihr erstes Album seit vier Jahren zu planen. Dann kommt alles anders: Genau eine Woche nach einem schwer missglückten Meeting am 10. Januar gibt Bassist Jason Newsted bekannt, dass er nach 15 Jahren seinen Hut nimmt und Metallica verlässt. Ein wahnsinniger Schritt, den wohl nicht viele gewagt hätten. Als Erklärung nennt Newsted „private und persönliche Gründe sowie die körperlichen Schäden“. Heute wissen wir genauer, worum es bei seiner Entscheidung geht. Metallica stürzen noch tiefer in die Krise. Die Arbeit an ihrem achten Album nehmen sie dennoch auf.

Um neu starten zu können, mieten Metallica eine alte Kaserne auf dem sogenannten Presidio in San Francisco, einem ehemaligen Militärstützpunkt, der unmittelbar an einem der Enden der Golden Gate Bridge liegt. Der Hintergrund: Die erfolgsverwöhnten Superstars möchten ihre Komfortzone verlassen und das Gefühl erzeugen, das entsteht, wenn eine junge Band zum ersten Mal in einer Garage zusammenspielt. „Nur, dass die Band Metallica heißt“, ergänzt Produzent Bob Rock in der Dokumentation Some Kind Of Monster (2004) mit einem Augenzwinkern. Innerhalb von zwei Wochen lassen James Hetfield und Co. ein provisorisches Studio in die Räumlichkeiten bauen und verladen ihr Equipment. Im April 2001 starten die Sessions.

„Zum ersten Mal hatte ich keine Ahnung, wohin uns diese Reise führen würde“, erzählt Lars Ulrich später in einem Interview mit MTV. „Für mich war wichtig, dass alles so ehrlich wird, wie es nur geht.“ Um ihre internen und externen Schwierigkeiten zu verdauen, engagieren Metallica den „Performance Enhancement Coach“ Phil Towle, der zuvor vor allem mit Sportmannschaften zusammengearbeitet hatte. Er soll dafür sorgen, dass Metallica wieder zum Team werden. So ist es seine Aufgabe, bei der Verarbeitung von Newsteds Abgang zu helfen, die internen Konflikte in der Band zu moderieren und Metallica den Rücken zu stärken. Ein Kamera-Team fängt den therapeutischen Prozess für die mehr als zweistündige Doku Some Kind Of Monster ein. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass St. Anger unter aufreibenden Umständen entsteht. Dann folgt auch noch ein weiterer großer Rückschlag.

James Hetfield unterbricht und begibt sich in einen Entzug

Im Juli 2001 muss Metallica-Sänger James Hetfield die Arbeit unterbrechen. Seine Sucht hat ihn eingeholt und er begibt sich in eine Entzugsklinik. Der Ausfall kommt überraschend. Schlagzeuger Lars Ulrich und Gitarrist Kirk Hammett machen erstmal Urlaub, ohne zu wissen, ob und wann es weitergeht. Wird James überhaupt wiederkommen? Und falls ja, wird er für Metallica zur Verfügung stehen? Fragen, auf die im Sommer 2001 niemand eine Antwort weiß. Nach sechs Monaten ohne ihren Frontmann geben Metallica ihr Studio im Presidio auf und beziehen das brandneue Metallica HQ in San Rafael (Kalifornien). Im Dezember gibt Hetfield endlich ein Lebenszeichen von sich und im April 2002 können Metallica weiter an St. Anger arbeiten — wenn auch eingeschränkt.

Im Rahmen seiner Genesung soll Hetfield nur von zwölf Uhr mittags bis 16 Uhr nachmittags arbeiten. Das bringt einige Probleme mit sich: Zum einen kommt es zu Konflikten, weil Lars Ulrich und Kirk Hammett vor und nach den vereinbarten Zeiten weiterarbeiten. Hetfield hat das Gefühl, die Kontrolle über seine eigene Band zu verlieren, was für ihn auch in der Vergangenheit schon ein Thema war. Zum anderen sorgen die begrenzten Zeiträume für produktionstechnische Schwierigkeiten. Hetfield steht wenig Zeit zur Verfügung, um Gesangs- und Gitarrenspuren einzuspielen. Bisweilen müssen sich Metallica mit mittelguten Takes zufrieden geben. „Wir hatten keine Gelegenheit dazu, erstaunliche Leistungen aus James herauszuholen“, erklärt Produzent Rock. „Wir mochten das Rohe.“ Genau diese Rohheit wird St. Anger später auszeichnen.

St. Anger: Ein Schutzheiliger für Wut und Zorn

Inhaltlich beschäftigen sich Metallica auf St. Anger titelgemäß mit dem Thema Wut. „Ich weiß noch, wie jemand mir zur Zeit von Ride The Lightning einen Sankt Christopherus geschenkt hat“, erinnert sich Hetfield 2003 in einem Interview. „Nach einigen Jahren fand ich heraus, dass er der Schutzheilige der Reisenden ist. Als ich aus dem Entzug kam, wurde mir klar, dass wir keinen Schutzheiligen für Wut und Zorn haben. Und wenn es noch keinen gab, dann würde Metallica verdammt nochmal einen erfinden!“ (Passend zu diesem roten Faden entsteht der Clip zum Titeltrack St. Anger in einem Gefängnis.) Ob sein Kampf gegen den Alkoholismus, seine Kontrollsucht oder seine schwierige Kindheit: Auf St. Anger brüllt James Hetfield heraus, was ihn wütend macht — unterlegt mit einem musikalischen Donnerwetter, das Metallica vorher und nachher nie wieder abgeliefert haben. Gitarrist Kirk Hammett witzelt 2003 in einem Interview: „Bei Kill ‘Em All waren wir zornige junge Männer, und jetzt sind wir zornige ältere Männer.“

Es sind vor allem drei Dinge, die den Sound von St. Anger definieren. Da wäre zum Beispiel die Tatsache, dass Metallica das Gaspedal über die gesamte Albumlänge von 75 Minuten durchtreten. Kurze Verschnaufpausen gibt es nur dann, wenn anschließend ein umso härteres Gitarrenbrett folgt. Theatralische Arrangements? Fehlanzeige. St. Anger ist ein Boxkampf ohne Handschuhe, darauf muss man sich einlassen. Gitarrensoli gibt es auf dem achten Metallica-Album nicht. Das ergibt im Gesamtkontext durchaus Sinn, denn hört man genau hin, sind passende Stellen für ein Solo tatsächlich Mangelware. „Wir wollten, dass die gesamte Aggression von der Band kommt, nicht von einem einzigen Musiker“, erklärt Bob Rock den Schritt. Das äußert sich sogar in den Texten, die auf St. Anger ein Gemeinschaftswerk sind. „Es war fast wie in der Schule mit einem Block und einem Stift“, erinnert sich Lars Ulrich. „Wir saßen alle zusammen und hatten Ideen. Dann gingen wir durch den Raum und jeder las dem anderen vor, was ihm eingefallen war. Am Anfang war das etwas einschüchternd, aber es war auch eine große Herausforderung und eine wunderbare Sache, um uns näher zusammen zu bringen.“ Dann wäre da noch die Sache mit der Snare-Drum …

Die Sache mit der Snare-Drum

Seit 20 Jahren gibt es unter Metallica-Fans ein Thekengespräch, das selten so endet, dass eine von beiden Seiten ihre Meinung ändert: den Snare-Sound auf St. Anger. Was für die einen perfekt zur animalischen Atmosphäre der Platte passt, tut den allermeisten in den Ohren weh. Der Legende nach beginnt der charakteristische Mülltonnenklang damit, dass Lars Ulrich bei einer Session vergisst, den Snare-Teppich festzustellen. Dadurch klingt ein Schlag auf die Trommel nicht wie der übliche Peitschenhieb, sondern eher wie ein „Klonk“. Der Sound gefällt ihm und Metallica verwenden ihn für das ganze Album. Diskussionen darüber, ob das eine gute oder eine schlechte Entscheidung ist, gibt es im Internet zuhauf. Vor allem gibt es dort aber einige interessante Klangexperimente.

So lädt der Musiker Daryl Gardner am 14. Januar 2015 eine eigene Aufnahme von St. Anger bei YouTube hoch, für die er die Snare richtig einstellt. Dadurch klingen die Songs natürlich anders — aber nicht unbedingt besser. Auch von Metallica selbst gibt es inzwischen zahlreiche Aufnahmen mit regulären Drum-Sound. Schon während der Tour 2003/2004 geht Lars Ulrich dazu über, den Snare-Teppich festzuziehen. Dennoch: Die Albumaufnahme passt. Besonders deutlich wird die Songdienlichkeit von Ulrichs Entscheidung, wenn man sich das Video „If Other Metallica Songs Had The St. Anger Snare Sound“ des kanadischen YouTubers Fountane anschaut. Durchkomponierte Stücke wie Master Of Puppets klingen mit gelöstem Snare-Teppich furchtbar. Dem aggressiven Fuel hingegen steht der Effekt ziemlich gut zu Gesicht.

Der neue Mann am Bass: Robert Trujillo

Die Bass-Spuren auf St. Anger spielt Produzent Bob Rock ein, denn als Metallica ihr achtes Album aufnehmen, haben sie noch keinen neuen Mann für die tiefen Töne gefunden. Das ändert sich Anfang 2003: Metallica lassen mehrere Bassisten für den freien Posten vorspielen, darunter Twiggy Ramirez (Marilyn Manson, A Perfect Circle), Scott Reeder (Kyuss, Unida), Pepper Keenan (Corrosion Of Conformity, Down), Chris Wyse (The Cult) und Eric Avery (Jane’s Addiction, Alanis Morisette). Den Zuschlag erhält am Ende Robert Trujillo, der damals noch in den Diensten von Metal-Papst Ozzy Osbourne steht und zuvor bei Infectious Grooves und Suicidal Tendencies gespielt hatte. Am  24. Februar 2003 verkünden Metallica ihren Neuzugang. (Ex-Bassist Jason Newsted heuert ironischerweise am 18. März bei Ozzy Osbourne an.)

Eigentlich soll St. Anger am 10. Juni 2003 erscheinen. Doch weil das Album bereits vorab in der illegalen Online-Tauschbörse Napster auftauchen könnte, darf es schon ab dem 5. Juni verkauft werden. In 14 Ländern stürmen Metallica die Pole Position der Charts; für die Single St. Anger kassieren sie 2004 einen Grammy für die „Best Metal Performance“. Die Kritiken fallen sehr gemischt aus. Bis heute polarisiert das achte Metallica-Album und hat in der Metal-Welt viele Feinde. Doch es gibt auch zweifelsohne genug Fans der Kalifornier, die das Album lieben. Auf der Bühne findet St. Anger seit 2005 nur selten statt. Viele der Songs haben Metallica bisher noch gar nicht live gespielt. Das letzte Stück auf der Platte kommt ab 2018 allerdings noch einmal zu spätem Ruhm.

All Within My Hands: Ein wandlungsfähiges Song-Monster

Es beginnt mit dem Live-Album Helping Hands…, auf dem Metallica All Within My Hands in einer akustischen Version zum Besten geben. In einer Art Dark-Country-Stil kitzeln die Musiker noch einmal völlig neue Facetten aus der ursprünglich sehr aggressiven Nummer heraus. Das hinterlässt wohl auch bei Metallica selbst einen bleibenden Eindruck, denn als James Hetfield und Co. im September 2019 ihr zweites Orchester-Live-Album S&M2 einspielen, entscheiden sich die Kalifornier dazu, den St. Anger-Closer in der umarrangierten Version in die Setlist aufzunehmen. In beinahe gespenstischer Weise offenbart die Orchester-Variante, was in den rohen Song-Gerüsten von St. Anger alles drinsteckt — auf jeden Fall einer der musikalisch spannendsten Beiträge auf S&M2!

Die Zeit nach St. Anger

Im Anschluss an die Veröffentlichung ihres achten Albums starten Metallica eine zweijährige Tour, spielen mehrere Festival-Gigs und legen eine zweijährige Pause ein, um Zeit mit ihrer Familie zu bringen. Der nächste größere Knall folgt im Februar 2006, als die Band verkündet, dass sie sich nach 15 Jahren von Produzent Bob Rock trennt, mit dem sie nicht nur St. Anger, sondern auch ihren größten kommerziellen Erfolg Metallica (1991) umgesetzt hatte. Stattdessen holen Metallica den legendären Rick Rubin an Bord und nehmen die Arbeit an ihrem neunten Album Death Magnetic auf. Am 12. September 2008, also mehr als fünf Jahre nach St. Anger, erscheint die Platte. Doch das ist wieder einmal eine andere Geschichte.

Fazit

Man muss St. Anger nicht mögen, keine Frage. Es ist nachvollziehbar, dass Metallica-Fans, die mit den ersten vier Alben oder mit der „Schwarzen“ aufgewachsen sind, Metallicas achtes Werk mindestens befremdlich finden. Doch wir müssen an dieser Stelle eine Lanze für die Platte brechen, denn sowohl für die Band selbst als auch für zahlreiche Jugendliche war St. Anger genau das Album, das Metallica 2003 rausbringen mussten. „Das Album ist extrem bedeutungsvoll für uns“, erklärt James Hetfield nach der Albumveröffentlichung im Gespräch mit MTV. In einem Interview von 2022 hält er fest: „Das Album ist ehrlich. Vielleicht kann man sich nicht damit identifizieren oder man mag den Sound nicht. Aber das ist der Punkt, an dem wir standen, und es ist das Album, das wir veröffentlicht haben. Vielleicht wird seine Zeit noch kommen … oder auch nicht.“ Mit Death Magnetic (2008), Hardwired… To Self-Destruct (2016) und 72 Seasons (2023) scheinen James Hetfield und Co. ihren Sound nun gefunden zu haben. Ob man den mag oder nicht, bleibt jedem selbst überlassen. Doch ist es nicht etwas Gutes und Einendes, dass in der abwechslungsreichen Diskografie von Metallica für jeden etwas dabei ist?

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